„Väter, engagiert euch!“
Vereinbarkeit von Familie und Beruf ist kein Selbstläufer.
Gesetze und Zeitgeist sind auf der Seite der Männer, um Vereinbarkeit von Familie und Beruf herzustellen. Sie können Elternzeit und Teilzeit beantragen, genau wie Frauen. In der Praxis werden diese Werkzeuge von Männern dennoch kaum genutzt. In Deutschland nehmen knapp 40 Prozent der Väter Elternzeit in Anspruch und die meisten bleiben nur zwei Monate Zuhause. Gerade einmal 6 Prozent von ihnen reduzieren ihre Stelle. Alte Rollenbilder wirken hier noch stark. Väter nutzen die Chance, um ihre Rolle in der Familie zu gestalten noch nicht umfangreich. „Rein formal macht es aus der Perspektive des Unternehmens keinen Unterschied, ob die Mitarbeiterin oder der Mitarbeiter sich um die Kinder kümmert. Der Prozess ist genau derselbe, die Anträge auch“, sagt Henning Klein, Head of IT in der Otto Group.
Henning Klein ist seit 2011 im Konzern und Vater von zwei Kindern. Vor ein paar Tagen ist seine Tochter zwei Jahre alt geworden, der Sohn schon fünf. Nach den beiden Kindergeburtstagen kehrt wieder Normalität in den Alltag ein. Normalität heißt im Fall von Henning und seiner Frau, dass sie beide in 80 Prozent arbeiten, mit dem Ziel, ein gleichberechtigtes Familienmodell zu leben. Wenn er auf seine Kindheit zurückblickt in den 80er Jahren, beschreibt er das klassische Rollenmodell: Der Vater hat gearbeitet, die Mutter ist lange zu Hause bei den Kindern geblieben. „Ich habe wilde Diskussionen mit meinem Vater geführt. Ich wusste, dass ich das anders machen wollte. Aber ich wusste nicht so richtig, wann und wie ich damit anfangen sollte.“ Hennings Mitarbeiter, Nico Lüthje, gab vielleicht den entscheidenden Anstoß, indem er sich für ein Jahr Elternzeit entschied. „Wenn der das kann, kann ich das auch“, dachte Henning damals. Zu diesem Zeitpunkt wird er Mitglied im Netzwerk Väter@OTTO.
Das Modell „Henning“
Bei beiden Kindern nimmt Henning Elternzeit, jeweils vier Monate. Sie genießen diese gemeinsame Zeit sehr, lernen sich als Familie besser kennen und reisen. Nach dem ersten Kind kommt Henning zu 100 Prozent in seine Führungsrolle zurück. Drei Jahre später folgt die Geburt seines zweiten Kindes. Henning erinnert sich an früher, wie er mit seinem Vater gestritten hat und eigentlich vieles anders machen wollte. Die Frage, die er sich zu diesem Zeitpunkt stellt: Möchte ich wirklich mein gesamtes Lebensmodell ändern oder geht es darum kurzfristig drei bis vier Monate Elternzeit mitzunehmen und danach weiterzumachen wie bisher?
Er beschließt, seine Arbeitszeit zu reduzieren und in 80 Prozent Teilzeit zu arbeiten. Wichtig in der Entscheidungsfindung: Der Austausch im Väternetzwerk und das Sparring mit seiner Frau. Henning: „Wir diskutieren sehr viel. Wo ergeben sich beruflich Chancen? Wer nimmt diese wahr? Wie können wir das umsetzen? Die Frage ist, wie strukturierst du deinen Alltag mit Kindern? Die Antwort darauf muss immer wieder neu ausgehandelt werden, weil sie sich mit dem Alter des Kindes fortlaufend verändert.“
„Es geht darum, den Mitarbeitenden, unabhängig von ihrem Geschlecht, einen klaren Rahmen zu geben, in dem individuelle Lebensmodelle möglich sind.“
Zweitrangig war bei der Entscheidung die Meinung der Anderen. Denn viele in Hennings Umfeld reagierten überrascht, nachdem er öffentlich gemacht hatte, dass er seine Arbeitszeit auf 80 Prozent reduzieren wird, erinnert sich der heute 39-Jährige. Aus gelernten Gründen: weniger Gehalt bei gleichem Workload; Teilzeit als Karriere-Bremse. „Das sind dieselben Herausforderungen, die Frauen und Mütter in Teilzeit kennen. Mit denen sie schon immer konfrontiert sind.“
Was Unternehmen tun können
Unternehmen haben es in der Hand Mitarbeitende beim Thema Vereinbarkeit zu unterstützen, indem sie, wie bei OTTO und der Otto Group, digitale Kollaborationstools zur Verfügung stellen und eine technologische Infrastruktur aufbauen, die flexibles – also zeit- und ortsunabhängiges – Arbeiten ermöglicht, eine Unternehmenskultur fördern, die unterschiedliche Lebensmodelle als bereichernd empfindet und Initiativen, wie Väternetzwerken, Raum gibt. Außerdem können neue Karrieremodelle Vereinbarkeit fördern. Häufig sind bestehende Karrieremodelle zu statisch, um angemessen darauf zu reagieren. „Durchlässigkeit zwischen den verschiedenen Lebensmodellen herzustellen, ist nicht nur wichtig für Familien, sondern grundsätzlich. Diese Durchlässigkeit kommt bei OTTO und innerhalb der Otto Group jetzt mit der Einführung der Expert*innenkarriere.“
Henning kann sich nicht vorstellen, bei einem Unternehmen zu arbeiten, das seine Vorstellungen nicht anerkennt und seine Werte nicht teilt. „Ich glaube, dass viele Menschen sehr dankbar sind, wenn sie sich selbst verwirklichen können und eher bei den Unternehmen bleiben. Deswegen helfen keine standardisierten Modelle: Jede*r muss ein eigenes Lebensmodell finden. Familie kann ein Treiber sein, um sich selbst damit auseinandersetzen.“
Quality Time wichtiger als Gehalt
Für Unternehmen sind Strategien, die den Arbeitsalltag für unterschiedlichste Lebensmodelle fit machen kein Hygienefaktor, sondern ein Faktor, der die Arbeitgeberqualität und -attraktivität steigert. „Es geht darum, den Mitarbeitenden, unabhängig von ihrem Geschlecht, einen klaren Rahmen zu geben, in dem individuelle Lebensmodelle möglich sind.“ Nach 12 Monaten Teilzeit ist Hennings Bilanz positiv: „Ich habe durch die Reduzierung meiner Arbeitszeit gelernt, dass ich anders führen muss. Nicht mehr Führen durch Präsenz, sondern vorhandene digitale Tools und Kommunikationskanäle nutzen.“ Dafür hat er die Meetingkultur und -strukturen angepasst. Die vergangenen sechs Monate haben gezeigt, dass sich viele physische Treffen durch Anrufe oder digitale Treffen ersetzen lassen. Eine Chance auch für das Thema Vereinbarkeit. Hennings These: „In fünf Jahren wird die freie Arbeitsplatzwahl einer der wichtigsten Punkte, um als Arbeitgeber im „war for talents“ attraktiv zu bleiben. Die Pendelzeit, die einige durch das Arbeiten von zu Hause sparen, können sie als Quality Time mit Familie und Freunden verbringen oder für Projekte und Fortbildungen einsetzen.“ Wenn individuelle Lebensmodelle in der Gesellschaft künftig eine höhere Akzeptanz erfahren, wird die Unterschiedlichkeit vielleicht noch mehr als Bereicherung für die Unternehmenskultur gesehen und der Faktor Familie als Qualifikation. Ohne engagierte Väter geht es nicht. Hennings Appell: „Väter, engagiert euch.“