Hurra, wir kriegen Nachwuchs!
… heißt es in Firmen immer seltener. Denn: In Unternehmen werden Lehrstellen zu Leerstellen, immer mehr Ausbildungsplätze bleiben unbesetzt. Woran liegt das? Auf der Suche nach einem Schuldigen.
Immerhin: 73 Prozent der Azubis sind zufrieden mit ihrer Ausbildung, wie der azubi.report 2018, eine Studie zur Situation von Auszubildenden in Deutschland, belegt. 3.767 „Lehrlinge“ und 100 Personaler wurden dafür befragt.
Trotzdem schielen die Recruiter in vielen Unternehmen schon jetzt sorgenvoll auf August 2019: Obwohl das aktuelle Ausbildungsjahr gerade erst begonnen hat, ist bereits absehbar, dass sie auch im kommenden Jahr wieder auf freien Ausbildungsstellen sitzenbleiben werden. Was ist los auf dem deutschen Ausbildungsmarkt? Werden angehende Auszubildende immer anspruchsvoller? Haben Unternehmen zu hohe Erwartungen?
8 Punkte aus dem azubi.report, an denen es knirscht:
1. Noten als Hürde: 35 Prozent der Personaler finden gute Noten wichtig. 46 Prozent der Auszubildenden geben an, dass Noten als Anforderung in der Stellenanzeige zu hoch sind. 39 Prozent der Personaler sortieren Bewerbungen aus, in denen der Schulabschluss nicht ihren Erwartungen entspricht.
2. Masse statt Klasse: 95 Prozent der Personaler sagen, dass die Qualität der Bewerbungen unzureichend ist.
3. Falsche Methode: 58 Prozent der Bewerber lernen die Bewerbung per Post in der Schule. 97 Prozent der Personaler bevorzugen aber die Online-Bewerbung (über die Karrierewebseite oder per E-Mail).
4. Mangelnde Selbstreflexion: 73 Prozent aller Unternehmen ändern ihre Stellenanzeige nicht, wenn sie Probleme haben, passende Bewerber zu finden.
5. Keine Geduld: 34 Prozent der Bewerber brechen das Verfahren ab, wenn sie zu lange auf eine Rückmeldung warten.
6. Ausdauer erforderlich: 21 Bewerbungen hat jeder Azubi im Durchschnitt geschrieben.
7. Eingeschränkte Mobilität: 43 Prozent der Bewerber können oder wollen für einen Ausbildungsplatz nicht umziehen.
8. Kein Geld: Nur 33 Prozent können mit der Ausbildungsvergütung ihren Lebensunterhalt finanzieren, die restlichen zwei Drittel sind auf die Unterstützung ihrer Familie oder des Staates angewiesen.
Statt Lern- und Lehrlust gibt’s also oft Frust. Der Ausbildungsreport, den der Deutsche Gewerkschaftsbund gerade veröffentlicht hat, schlägt in die gleiche Kerbe: Azubis sind so unzufrieden wie nie. Jeder Vierter bricht ab.
Wer hat Schuld am Ausbildungsdilemma?
Joachim „Jo“ Diercks betreibt einen der erfolgreichsten deutschen HR-Blogs und ist Experte im Bereich Recrutainment. Den „einen Schuldigen“ gibt es für ihn nicht. Ein Faktor beim Ausbildungsdilemma ist für ihn das Imageproblem der dualen Berufsausbildung: Jo: „Seit Jahren wird mit Verweis auf die OECD-Zahlen propagiert, man könne es nur mit einem Studium zu etwas bringen. Hier sollte man aber nicht Äpfel mit Birnen vergleichen.“ So habe in Schottland jemand, der als Klempner arbeitet, oft einen Bachelor-Abschluss, in Deutschland hingegen eine Berufsausbildung. „In der Statistik hat Schottland also eine höhere Akademikerquote, aber ob es deshalb bessere Klempner hat, wage ich zu bezweifeln. Ausbildende Unternehmen können sich dagegen oft nur noch wehren, indem sie ihre Ausbildungsberufe zu Dualen Studiengängen machen.“
"Gießt den Leuten reinen Wein ein!"
Aber es gibt noch weitere Ursachen, warum Unternehmen und Bewerber oft nur schwer zueinanderfinden. Wenn überhaupt. „Die berufliche Orientierung ist eine Herkulesaufgabe“, sagt Jo. „Junge Menschen treffen in dem Bewusstsein, dass sie ‚alles werden können‘, auf eine Riesenauswahl an Berufsbildern, Ausbildungsformen und Unternehmen. Diese Vielfalt an Optionen kann schnell zu einer nicht mehr zu bewältigenden Aufgabe werden: Was will ich eigentlich? Was passt zu mir? Wer bietet das an? Wo finde ich das? Fragen wie diese sind unheimlich schwer zu beantworten. Das Resultat ist dann nachher oft eine Berufswahl, die doch wieder auf Stereotype zurückfällt. Hier brauchen wir viel mehr und viel bessere Instrumente der Berufsorientierung.“
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Was Unternehmen tun sollten
Sein Rat an Unternehmen auf Azubi-Suche fällt dementsprechend deutlich aus: „Verbessert die Klarheit der Erwartungen!“ Stichwort: Transparenz. Unternehmen sollten ihre Berufsbilder, Arbeitsumgebungen, Inhalte und Kultur teilen und erlebbar machen. „Gießt den Leuten reinen Wein ein!“, appelliert der Experte an die Personaler. „Nur so kann jemand von außen sich ein Bild machen. Es gibt so viele Möglichkeiten. Und erst, wenn das alles ausgeschöpft ist, dann können wir über ‚Fachkräfte-“ oder ‚Azubimangel‘ sprechen.“
(Joachim Diercks ist am 17. September zu Gast beim OTTO-Zukunftsabend)